FACHARTIKEL: Die Tuina/Akupressur Therapie bei Tinnitus

Entspannte Gesichtsmassage

Die Sinnesorgane in der TCM
Bevor wir uns mit den TCM-Syndromen, Meridianbezügen und Behandlungsstrategien der Tuina bei Tinnitus beschäftigen, noch ein kurzer Einschub über die Bedeutung der Sinnesorgane in der TCM. In den taoistischen Klassikern, insbesondere zum Qigong und der inneren Alchemie, wird darauf verwiesen, dass es für ein langes, gesundes Leben bedeutend ist, die 7 Öffnungen zu versiegeln. Dazu zählen neben den fünf Öffnern Augen, Ohren, Zunge, Lippe und Nase auch der Beckenboden mit dem Diaphragma urogenitale und pelvis. Dieser Hinweis bzw. diese Übungsanleitung im Qigong weist daraufhin, wie wichtig die Sinnesorgane bei der Bewahrung der Organ Essenz und des Qi sind.

In Zeiten permanenter Reizüberflutung sind die Sinnesorgane und das vegetative Nervensystem in besonderem Maße überlastet und stellen somit eine leichte Eintrittspforte für pathogene Faktoren dar. Daraus resultieren Fülle Erkrankungen wie „Wind greift die Shaoyang Leitbahnen an“ oder „Schleim-Hitze, Schleim-Kälte greift das Ohr an“. Zugleich besteht die Gefahr, dass sich über die Sinnesorgane, also die Öffner, das Yin der inneren Organe auszehrt und es zu Mangel und Leere Zuständen wie „Nieren und Leber Yin Mangel“ oder auch „Nieren Yang und Qi Mangel“ kommt.

Meiner Erfahrung nach sind Patienten mit Tinnitus nicht mehr in der Lage, gezielt ihre Ohren „zu öffnen und zu schließen“, sprich Informationen bewusst zu selektieren. Entweder verschließen sie die Ohren, um nicht mehr alles mitkriegen zu müssen, da es sie überfordert, oder sie haben die Fähigkeit verloren Geräusche und Gesagtes so zu filtern, dass es sie nicht überfordert. Beide Wege führen zu Dysbalancen, die sich in unterschiedlichen Ohrgeräuschen äußern und Aufschluss über den energetischen Zustand geben können. Die fünf Geistspeicher, wushen, sind überlastet und zugleich treten psycho-emotionale und geistige Symptome wie Schlafstörungen, innere Unruhe und Gereiztheit parallel zum Tinnitus auf. Die verschiedenen Ohrgeräusche sind das Resultat einer Überforderung.

Ohrgeräusche werden ursächlich mit Störungen der Funktionskreise Milz, Leber, Niere und Galle in Verbindung gebracht. Ursachen können aber trotzdem auch aus Störungen anderer Funktionskreise resultieren, was eine individuelle Diagnostik immer voraussetzt. Wenn die Ursache beispielsweise im Funktionskreis der Gallenblase begründet ist, ist es trotzdem wichtig zu betrachten, warum sich das Ungleichgewicht gerade über das Symptom des Tinnitus mit der Zuordnung zum Funktionskreis Niere äußert. Die Nieren Energie ist in jedem Fall in die Therapie mit einzubeziehen, da sich das Ungleichgewicht in ihr äußert. Im Hinblick auf eine Chronifizierung und die bereits angesprochenen beiden Öffner des Beckenbodens, die einen sehr engen Bezug zur Niere haben, ist eine Stärkung der Nieren Energie immer empfehlenswert. Eine eindimensionale Betrachtung der Ursachen mit Bestimmung eines Funktionskreises und eines TCM-Syndroms wird der energetischen Wechselbeziehung und der Bedeutung der Differenzialdiagnostik nicht gerecht. Deshalb behandle ich in der Tuina die energetischen Kaskaden und nie nur ein Syndrom.

Mit Tuina Tinnitus behandeln
Die Tuina kann auf unterschiedliche Art und Weise sehr hilfreich sein bei der Behandlung von Tinnitus. Da die Entstehung von Tinnitus sehr vielfältige Ursachen hat, kommt es auf eine sehr präzise Differenzialdiagnostik an, um die geeignete TCM-Therapie festlegen zu können. Bei Blockaden und Verspannungen der Halswirbelsäule, die zu Ohrgeräuschen führen, ist die Tuina sehr gut als Therapiemethode anwendbar. Ihr primäres Ziel ist es die Leitbahnen durchgängig zu machen und den Qi und Blutfluss anzuregen. Da beim Tinnitus häufig durch eine Schleimthematik oder pathogene Faktoren die Ohren versorgende Meridiane blockieren, kann auch in diesem Fall Tuina sehr gut eingesetzt werden.

Ergänzend kann sie auch bei organischen Fülle- und Leere Zustände insbesondere bei der Leber-Fülle und Nieren-Leere angewendet werden, ist aber in diesen Fällen sicherlich nicht die erste Wahl der TCM-Therapiesäulen bei der Behandlung von Tinnitus. Sie kann aber die Akupunktur und Phytotherapie sehr gut unterstützen.

Eine weitere wichtige Bedeutung der Tuina bei Tinnitus liegt in der Selbsthilfe für Patienten. In Form von Akupressur und einfachen manuellen Techniken kann sie von Patienten eigenständig zu Hause angewendet werden, um die Intensität des Ohrgeräusches zu lindern, die therapeutischen Interventionen zu intensivieren und den Patienten in seiner Entspannungsfähigkeit zu unterstützen. Stress und emotionale Anspannungen sind bekanntermaßen wichtige Ursachen für den Tinnitus. Bei der Frage nach der Wirksamkeit der Tuina bei Ohrgeräuschen muss auch geklärt werden, ob es sich um einen akuten oder chronischen Verlauf handelt. Der akute Tinnitus lässt sich mit Tuina erfolgreicher behandeln als der chronische Verlauf. Dem chronischen Verlauf liegen meist fortgeschrittene Leere Zustände zu Grunde, die meiner Erfahrung nach nur sehr eingeschränkt mit Tuina behandelt werden können. Die Domäne der Tuina ist es Meridiane durchgängig zu machen, Qi und Blut ins Fließen zu bringen und pathogene Faktoren auszuleiten. Leere Zustände aufzufüllen ist nur in Kombination mit Phytotherapie oder Qigong nachhaltig möglich.

Syndrom Muster und Meridianbezüge bei Tinnitus
Schauen wir folgend auf die wichtigsten energetischen Muster und Meridiane, die das Ohr versorgen, um darauf aufbauend Behandlungsabläufe bei Tinnitus zu entwickeln. Im Fokus stehen insbesondere die beiden Shaoyang-Meridiane Gallenblase und Sanjiao sowie der Dünndarmmeridian (Taiyang). Alle drei Meridiane spielen auch bei der TCM-Syndrom bezogenen Betrachtung eine bedeutende Rolle, so dass sie für die Tuinabehandlung maßgeblich sind. Wenn wir die Verspannungen und Blockaden der Halswirbelsäule noch mithinzunehmen sind der Blasenmeridian (Taiyang) und der Du Mai noch zwei weitere wichtige Meridiane, die wir ins Therapiekonzept der Tuina integrieren müssen. In der Tuina bietet es sich an, Erkrankungen über den Meridianbezug zu behandeln. Dies ist ein guter und schneller Einstieg, sollte aber zur gezielten, effektiven Behandlung mit der Syndrom- & Differenzialdiagnostik ergänzt werden.

Meridiane:

  • Gallenblasenmeridian
  • Sanjiaomeridian
  • Dünndarmmeridian
  • Blasenmeridian
  • Du Mai

Syndrom-Muster

  • Leber Qi Stagnation mit weiterführenden Hitze Syndromen
  • Wind greift die Shaoyang Leitbahnen an
  • Gallenblasen Schleim Kälte verlegt die Ohren
  • Gallenblasen Schleim Hitze verlegt die Ohr-Öffnung
  • Zäher Schleim und Blut Stau verlegen die Luo Mai des Kopfes
  • Qi und Blut Mangel
  • Leber und Nieren Yin Mangel
  • Nieren Yin Mangel mit Leere Hitze
  • Nieren Yang und Qi Mangel
  • Qi und Blut Stau

Wie die Auflistung der obigen Syndrom-Muster zeigt, gibt es sehr viele Ursachen für Ohrgeräusche. In der Differenzialdiagnostik ist es bedeutend darüber hinaus die individuellen energetischen Kaskaden zu betrachten, die zum Tinnitus geführt haben. Auf eine vollumfängliche Darstellung von Behandlungsabläufen nach den verschiedenen Syndrom Mustern mit Symptomatiken, Puls- und Zungenzeichen und der Beschreibung von Geräuschqualitäten wird deshalb hier bewusst verzichtet, da es den Rahmen dieses Artikels sprengt. Exemplarisch wird ein Tuinabehandlungsablauf der Shaoyang Leitbahnen mit einigen Syndrom Differenzierungen vorgestellt. Für TCM-Therapeuten, die nicht primär mit Tuina arbeiten, aber ihren Patienten ein Selbsthilfeprogramm mitgeben möchten sind nachfolgend auch Vorschläge aufgeführt.

Energetik der Tuina
An dieser Stelle gibt es noch einen kurzen Hinweis auf die „Energetik der Tuina“, die aus der Erweiterung rein manueller Techniken mit Energiemethoden des Qigong und der körperorientierten Psychotherapie von mir entwickelt wurde. Denn insbesondere, wenn es sich um Tuina Behandlungsabläufe handelt, die über den orthopädischen Fachbereich hinausgehen, ist es notwendig einen größeren Fokus auf die energetische Anwendung zu legen.  Einige Bestandteile finden sich in den Behandlungsabläufen wieder, warum sie hier kurz erwähnt werden:

  • Integration der Shen Ebene wu shen – zeitlose Präsenz
  • Nährende, insbesondere Yin nährende ergänzende Methoden aus dem Qigong
  • Bewusste Atmung des Patienten
  • Formen der Berührung – konstitutionsabhängige Intensitäten & Berührungen
  • Direkte Energiewahrnehmung von Meridianen und Organen als Ergänzung zur klassischen Diagnostik

Selbstbehandlung bei Tinnitus

Technik Ausführung Dauer
Tui Fa  Mit Zeige- und Mittelfinger am vorderen und hinteren Ohransatz auf und ab schieben – fördert den Qi und Blut- Fluss und eliminiert pathogene Faktoren 1-3 Minuten
An Fa Handinnenflächen (Pe 8 – Laogong) jeweils auf das rechte und linke Ohr legen. Mit leichtem zunehmendem Druck an den Kopf drücken, kurz innehalten und dann plötzlich lösen. 3-5 -mal
Kou ji fa Die himmlischen Trommeln schlagen: Laogong Punkte auf die Ohren legen und die Finger zeigen dabei nach hinten und liegen am Schädel auf. Die Handballen drücken wieder leicht auf die Ohren. Dann mit den Fingerbeeren gegen den Schädel trommeln. 30 Sek. – 1 Minute
Rou Fa Mit dem Daumen der einen Seite den Sj 5 der gegenüberliegenden Seite intensiv kreisend manipulieren. Das Kreisen geht mit einem Druck in die Tiefe und dann wieder etwas oberflächlicher weiter kreisen. Beidseits. 1 Minute
Rou Fa Rou fa – Gb 2 – xie fa
Rou fa – Dü 19 – xie fa
Rou fa – Sj 21 – xie fa
1 Minute

 Die Selbstbehandlung sollte dreimal am Tag durchgeführt werden. Die Reihenfolge ist nicht festgelegt und kann variiert werden.